Lernen heute muss individualisiertes Lernen sein

Besonders häufig wird als Kennzeichen unserer Zeit die Pluralisierung der Lebensformen und die damit verknüpfte Individualisierung genannt. Kinder heute wachsen in ganz unterschiedlichen familiären und sozialen Lebensformen auf. Eine große Verschiedenartigkeit (Heterogenität) ihrer Entwicklungs- und Lernvoraussetzungen ist die unausweichliche Folge. Verstärkt wird dieses Phänomen der Heterogenität bei deutschen Kindern noch durch die vielen Kinder anderer kultureller Herkunft, welche heute unsere Kindergärten und Schulen besuchen. Ferner versucht man in zunehmendem Maße, auch behinderte Kinder in die Regeleinrichtungen einzugliedern und am gemeinsamen Lern- und Erziehungsprozess teilnehmen zu lassen. Dass dies eine weiterer Beitrag zur Verstärkung einer heterogenen Erziehungs- und Lernsituation ist, leuchtet ohne weiteres ein.

 

Wie lässt sich diese Entwicklung beurteilen? Wie kann man ihr pädagogisch und didaktisch Rechnung tragen? Zunächst muss man sich von einem Denken freimachen, das bei uns noch immer stark ausgeprägt ist. Viele sind nämlich der Meinung, dass Gleichartigkeit einer Gruppe didaktisch und pädagogisch erwünscht sei, weil sich dann Lern- und Erziehungsprozesse einfacher und erfolgreicher gestalten ließen. Wenn alle Kinder in etwa gleiche Voraussetzungen haben, so meint man, kann man Erziehung und Unterricht gezielt auf diese Voraussetzungen beziehen und so effektiv gestalten. Dies gilt freilich nur unter der Annahme, dass Unterricht so beschaffen sein müsse, dass in ihm alle Kinder zu gleicher Zeit das Gleiche lernen. In Wirklichkeit sind jedoch Erziehung und Bildung ein im Wesen individueller Vorgang, dem durch Voranschreiten aller im Gleichschritt nicht angemessen Rechnung getragen werden kann.

 

Maria Montessori und andere Reformpädagogen sind von der Annahme ausgegangen, dass Heterogenität, also Verschiedenartigkeit einer Gruppe erzieherisch und didaktisch wertvoller sei als Homogenität, also Gleichartigkeit. Sie haben daher versucht, diese Heterogenität nicht abzubauen, sondern sie sogar noch zu verstärken, zugleich aber auch pädagogisch fruchtbar werden zu lassen. So hat Maria Montessori bewusst das Prinzip der Altersmischung in ihren Gruppen realisiert, das unter der Bezeichnung "family grouping" auch im angelsächsischen Bereich heute großen Anklang findet. Im Kindergarten ist es uns heute geläufig. Aber es soll auch für die Schule gelten. Natürlich bedarf es dann auch anderer Unterrichtsformen als des direkt vom Lehrer gesteuerten Frontalunterrichts, wie ihn die meisten aus ihrer eigenen Schulerfahrung kennen. Maria Montessori hat hierfür die Form der Freiarbeit entwickelt.

 

Freiarbeit im Sinne Montessoris kann als eine Unterrichtsform bezeichnet werden, in welcher der Schüler aus einem differenzierten Lernangebot den Gegenstand seiner Tätigkeit, die Ziele, die Sozialform sowie die Zeit, die er auf den gewählten Aufgabenbereich verwenden will, im Rahmen allgemeiner Vorstrukturierungen selbst bestimmen kann. Für den Ablauf der selbstgewählten Arbeit gilt, dass der Schüler sich frei im Raum bewegen und auch Kontakte mit Mitschülern aufnehmen darf, etwa um ihnen zu helfen oder sich helfen zu lassen, sofern und soweit die Arbeit der anderen Schüler dadurch nicht gestört wird. Mit der Wahl der Arbeit ist die Verpflichtung verbunden, sie möglichst auch zu Ende zu führen. Kontrollen des Arbeitserfolgs bieten entweder die Arbeitsmittel selbst (Fehlerkontrolle) oder Mitschüler und Lehrer übernehmen diese Funktion.

 

In ihrer Vollform bietet Montessori-Freiarbeit den Schülern die Möglichkeit, innerhalb einer differenziert gestalteten "vorbereiteten Umgebung" Inhalte aus den verschiedensten Fachbereichen zu erarbeiten oder zu üben. Montessori hat hierfür reichhaltiges didaktisches Material entwickelt und empirisch erprobt. Von Montessori-Pädagogen wird dieses Material unter Beachtung grundlegender Prinzipien der italienischen Pädagogin seit jeher ergänzt und erweitert. Montessori selbst hat sich zeitlebens um den Ausbau ihrer Materialien bemüht. Das Ausmaß der Freiarbeit umfaßt an Montessori-Grundschulen bis zu 15 Wochenstunden. Die einzelnen Freiarbeitsphasen dauern oft bis zu zweieinhalb Zeitstunden. Häufig wird Freiarbeit zu Beginn des Unterrichtsvormittags im Rahmen einer flexiblen Eingangsphase angesetzt.

 

Das Kind lernt in der Freiarbeit durch selbstorganisiertes Tun. Es kann sich mit seinen individuellen Lernfähigkeiten und -formen und seinen besonderen Interessen in großem Umfang selbst in den Lernprozess einbringen. Wichtig ist dabei, dass jedes Kind in dem ihm gemäßen Arbeitstempo und Lernrhythmus voranschreiten kann. Er wird nicht durch die auf einen imaginären Durchschnittsschüler abgestimmte Vorgehensweise eines lehrergesteuerten Klassenunterrichts über- oder unterfordert. Auch dem Wiederholungsbedürfnis vor allem jüngerer oder lernschwacher Kinder wird angemessen Rechnung getragen. Denn wie lange sich ein Kind mit einem Lerngegenstand auseinandersetzt, entscheidet es selbst. Es hat damit die Möglichkeit, in Ruhe bei einem Gegenstand verweilen zu können. Das meditative Element des Bildungsprozesses — heute weitgehend vernachlässigt — spielt für Montessori eine große Rolle. Die Pole von Aktivität und Kontemplation werden in ihrer Pädagogik zu einer spannungsreichen Synthese vereint.

 

Ein Effekt der Freiarbeitsstruktur besteht auch in der gegenüber dem üblichen Klassenunterricht größeren Freisetzung des Lehrers zu individueller Hilfe. Er erhält Spielraum, sich den Kindern besonders intensiv zuzuwenden, die darauf vor allem angewiesen sind, ohne dass dadurch Lernfortschritte leistungsstärkerer Schüler unangemessen behindert würden. Die größeren Möglichkeiten, Kinder zu beobachten, erlauben es ihm auch, solche Hilfen gezielter anzusetzen. Schließlich erhält er auch die Gelegenheit, in stärkerem Maße persönliche Beziehungen zu den einzelnen Kindern aufzubauen, was für alle Erziehungs- und Bildungsarbeit unverzichtbar erscheint.

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