(nach: Ludwig, Harald (Hrsg.): Erziehen mit Maria Montessori, 1. Ausgabe der überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe, Freiburg 2003)
Der Mensch ist für Montessori ein personales Wesen. Diese Personalität des Menschen, die allen Menschen eigen ist unabhängig von ihrer Rasse, Kultur, Religion oder ihrem Geschlecht, differenziert sich unter zwei Hauptaspekten: der Individualität und der Sozialität.
Jeder Mensch ist für Montessori ein einmaliges unverwechselbares Individuum. Er ist aber zugleich "von Natur aus ein soziales Wesen" oder — wie sie einmal formuliert — "das soziale Wesen par excellence" (Montessori, M.: Frieden und Erziehung, Freiburg 1973, S.15). Unter beiden Aspekten muss die Erziehung eine Förderung des jungen Menschen anstreben. Dabei werden die Akzente von Montessori so gesetzt, dass zwar die Förderung beider Aspekte von Geburt an eine Rolle spielt, aber bis zum Ende der Kindheit, etwa mit 12 Jahren, die Förderung der Individualität im Vordergrund steht, danach, im Jugendlichenalter, hingegen die der Sozialität, insbesondere in ihrer umfassenden gesellschaftlichen und kosmischen Dimension.
Es ist dabei klar zu erkennen, dass Montessori der Förderung der Individualität ein besonderes Gewicht gibt. Denn sie sieht in der Gesellschaft einen Zusammenschluss von Individuen und die Qualität einer Gesellschaft ist abhängig von der Entfaltung und Qualität der Individualität der einzelnen Menschen, die zu ihr gehören. Höherentwicklung der Gesellschaft ist daher nur möglich durch Höherentwicklung der einzelnen Menschen mit ihren individuellen Begabungen. Umgekehrt ist eine Höherentwicklung der Individualität auch abhängig von der Höherentwicklung der Gesellschaft. So gibt es etwa gesellschaftliche Strukturen, welche eine angemessene Entfaltung individueller Möglichkeiten behindern. Führungsglied in dieser dynamisch-dialektischen Entwicklung ist indessen die Individualität und deren Förderung. Eine volle Entfaltung der jeweiligen Individualität allein genügt allerdings nicht. Der Mensch soll sich vielmehr mit seiner entfalteten Individualität im Rahmen einer solidarischen Moral in den Dienst der Gesellschaft stellen.
Der Mensch ist für Montessori im Unterschied zum Tier in seinem Verhalten nicht festgelegt, sondern besitzt eine nahezu unbegrenzte Anpassungsfähigkeit und Weltoffenheit. Es gibt "für den Menschen keine Prästabilisierung" (Montessori, M.: Das kreative Kind — der absorbierende Geist, Freiburg 1972, S.90). Vorgegeben sind lediglich "Potentialitäten". Der Mensch — so könnte man formulieren — ist zunächst lediglich ein Möglichkeitenkomplex. So besitzt er zum Beispiel eine grundlegende Potentialität für Sprache. Aber es gibt unendlich viele Formen, in denen dieses Sprachvermögen konkrete Gestalt annehmen kann. Entsprechendes gilt für Religion oder auch für den mathematischen Geist oder für die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können und zu müssen. Montessori benutzt für solche Potentialitäten auch den Ausdruck "Nebule". Postnatale Embryonalzeit und lange Kindheit sind nach Montessori Ausdruck dieser Sonderstellung des Menschen.
Allerdings gibt es bereits in diesem offenen Dispositionsgefüge individuelle Unterschiede, die uns aber zunächst verborgen bleiben und erst in der weiteren Entwicklung des Menschen in Erscheinung treten. Montessori gebraucht für die geistige Entwicklung des Menschen auch das Bild des geistigen oder psychischen Embryos und spricht von einem "inneren Bauplan", der diese Entwicklung leitet. Gleichwohl lehnt sie eine Deutung dieses Geschehens als eines bloßen Reifungsprozesses in Analogie zur körperlichen Entwicklung als "zu biologisch" ab. (Ebd., S.87) Der Mensch entfaltet sich nicht wie eine Pflanze, etwa wie eine Blume, die das Programm ihrer Entwicklung vollständig in sich enthält.
Denn der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen. Er ist ein kulturabhängiges und kultur-schaffendes Wesen. Er ist zudem ein Wesen, das nicht fertig zur Welt kommt, sondern sich in aktiver Auseinandersetzung mit seiner natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt selber aufbauen muss. Insofern ist das Kind der "Baumeister des Menschen". Zu seiner natürlichen Ausstattung gehört ein Tätigkeitsdrang, der ihn dazu antreibt, diese Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und den Aufbau seiner geistigen Strukturen voranzubringen. Der junge Mensch braucht dazu in einer komplex gewordenen Welt mehr denn je zuvor erzieherische Hilfe. Für Montessori ist dieser Mensch — wie man in Anlehnung an Pestalozzi zusammenfassend formulieren könnte — Werk der Natur, Werk des Menschen und Werk seiner selbst. Erst das Zusammen dieser drei Perspektiven, die sich nie völlig zur Deckung bringen oder auflösen lassen, eröffnet einen angemessenen Blick auf die Entwicklung des Menschen.
Montessori differenziert zwischen einem allgemeinen Rahmen der Entwicklung und dessen Ausgestaltung durch die Individualität jedes Kindes. Einerseits gilt für Montessori zwar das Geheimnis der Individualität des Kindes. Andererseits aber formuliert sie auch im selben Zusammenhang "die Gleichheit aller Kinder auf dieser Welt": "Alle Kinder sind von Geburt an gleich. Sie entwickeln sich alle auf die gleiche Weise und folgen den gleichen Gesetzen" (Ebd., S.87). Diese allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kindlicher Entwicklung lassen sich durch Beobachtung frei arbeitender Kinder wissenschaftlich erforschen. Dazu gehört zum Beispiel, dass sich die Entwicklung des jungen Menschen in Stufen vollzieht, die in ihrer zeitlichen Dimension durch Altersangaben grob gekennzeichnet werden können, inhaltlich aber durch besondere Empfänglichkeiten zum Erwerb bestimmter Fähigkeiten oder Fertigkeiten ein besonderes Profil gewinnen. Montessori spricht hier von "sensiblen Phasen". Das kleine Kind unter drei Jahren verfügt zudem über eine besondere Geistesform, die Montessori als "absorbierenden Geist" bezeichnet. Sie befähigt das kleine Kind zu einer ganzheitlichen Aufnahme von Welteindrücken, wie sie dem Menschen später nicht mehr zur Verfügung steht. Man denke etwa an den Erwerb der Sprache. Solche Vorgegebenheiten sind allerdings nicht starr, sondern verändern sich ihrerseits im Laufe der Entwicklung des jungen Menschen und sie können sich auch nur verwirklichen "durch ein freies Handeln in der Umwelt". (Ebd., S.89) In den Beiträgen dieses Buches wird darauf in verschiedenen Perspektiven näher eingegangen werden.
Mit welchen individuellen Möglichkeiten dieser allgemein geltende Entwicklungsrahmen ausgefüllt wird, können wir zunächst nicht erkennen. Es muss daher darauf ankommen, dem jungen Menschen in dieser Periode seiner Entwicklung eine umfassende Förderung gemäß den erkennbaren allgemeinen Entwicklungsstrukturen zuteil werden zu lassen, ihm aber andererseits so viel Freiheitsspielraum zu geben, dass er gemäß den in ihm wirksamen, aber nicht unmittelbar erkennbaren individuellen Impulsen sich entfalten kann. Das pädagogische Ergebnis dieser Überlegungen ist das Konzept der "vorbereiteten Umgebung", die dem Kind gemäß den Besonderheiten seiner jeweiligen Entwicklungsstufen und den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen geschaffen werden muss.
Für die hier skizzierten anthropologischen Auffassungen beruft sich Montessori in erster Linie auf wissenschaftliche Erkenntnisse ihrer Zeit und ihre eigenen empirisch orientierten Versuche und Beobachtungen, die sie in ihrer frühen Zeit an Kindern vor allem in Europa, später auch in außereuropäischen Ländern und Kulturen gemacht hat. Auch wenn es sich nicht um streng empirische Untersuchungen gemäß den heutigen Standards empirisch-analytischer Vorgehensweise handelt, zumal Montessori seit 1907 zunehmend zu allgemeineren phänomenologisch orientierten Analysen übergegangen ist, so bewegt sie sich doch hierbei in einem wissenschaftlichen Rahmen.
Von früh an finden wir indessen bei Montessori daneben auch eine andere Ebene ihres Denkens. Es handelt sich um die religiöse Dimension, mit der sie ihrem Menschenbild und ihrer Erziehungskonzeption eine letzte die Wissenschaft übersteigende Fundierung und Ausrichtung zu geben versucht. Die letzte Begründung für Montessoris Hochschätzung menschlicher Individualität etwa ist die Tatsache, dass der Mensch nicht nur Exemplar der Gattung ist, auch nicht nur Kunstwerk der Natur, sondern einmaliges Geschöpf Gottes, der jeden bei seinem Namen gerufen hat. Die Kräfte, die im Kind wirksam sind, sind für Montessori letztlich göttliche Kräfte. Dem jungen Menschen bei seiner je individuellen Entwicklung zu helfen, ist letztlich eine Form der Mitarbeit am göttlichen Schöpfungswerk. (Vgl. Montessori, M.: Gott und das Kind, Kleine Schriften 4, Freiburg 1995)