(nach: Ludwig, Harald (Hrsg.): Erziehen mit Maria Montessori, 1. Ausgabe der überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe, Freiburg 2003)
Montessori hat ihre anthropologischen und pädagogischen Überlegungen im Rahmen einer umfassenden Zeitanalyse entwickelt, die sie in ihrem Spätwerk seit den 30er Jahren differenzierter entfaltet hat. Es scheint sich bei unserer Zeit um eine entscheidende Epoche in der Menschheitsgeschichte zu handeln. Maria Montessori hat das in den 30er Jahren im Rahmen ihrer Vorträge zum Themenkreis Frieden und Erziehung einmal so ausgedrückt: "So sieht die Wirklichkeit unserer Zeit aus: … Wir befinden uns in einer Krisis, zwischen einer alten Welt, die zu Ende geht, und einer neuen Welt, die schon begonnen hat und die alle ihre konstruktiven Elemente zu erkennen gegeben hat. Die Krisis, die wir durchschreiten, zeigt nicht den Übergang von einem Zeitalter in das andere an, sie kann nur mit einer der biologischen oder geologischen Epochen verglichen werden, in der neue, größere und vollkommenere Wesen erscheinen, während auf der Erde nie vorher da gewesene Lebensbedingungen Wirklichkeit wurden" (Montessori, M.: Frieden und Erziehung, Freiburg 1973, S.24 (=Montessori, M.: Die Macht der Schwachen, Kleine Schriften 2, Freiburg 1989, S.41)). Diese Auffassung Montessoris hat durch die weitere Entwicklung der Menschheit noch an Berechtigung gewonnen. Wir leben in einer Krisen- und Wendezeit. Es deuten sich Entwicklungen in die Zukunft hinein an, von denen aber niemand mit Sicherheit sagen kann, wohin sie letztendlich führen werden.
Aber mehr noch: Es ist eine Situation in der Menschheitsgeschichte entstanden, wie es sie vorher noch nie gegeben hat. Denn erstmals in seiner Geschichte hat der Mensch durch die technische Entwicklung die Fähigkeit erworben, sich selber als Gattung auszurotten. Wenn der Mensch sich nicht besinnt und die Krisenbedeutung der Zeit nicht angemessen erfasst, droht — wie Montessori im gleichen Kontext ausführt — "eine universale Katastrophe". "Wenn die Sternenenergien vom zweidimensionalen und unwissenden Menschen zur Zerstörung seiner selbst benutzt werden, wird ihm dieses Vorhaben schnell gelingen. Denn die Energien, über die er verfügt, sind unermesslich; und sie sind allen in jedem Augenblick und an jedem Ort zugänglich". (Ebd., S.24f (S.41)) Wenige Jahre später hat Montessori eine solche Entfesselung ungeheurer Energien zur Vernichtung von Menschen in Gestalt der Atombomben, die auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden, noch selbst erleben können und müssen.
Montessori sieht nicht nur Gefahren voraus, wie sie in der atomaren Bedrohung zum Ausdruck kommen, sondern denkt auch an die Entwicklungsmöglichkeiten für furchtbare biologische Waffen: "Wenn der Mensch, der das Geheimnis der Pest besitzt und deren unsichtbare Faktoren in den Händen hat, die er bis ins Unendliche kultivieren und multiplizieren kann, das, was eine erhabene Errungenschaft zur Rettung war, benutzt, um Unheil und Epidemien zur Vergiftung der Welt auszustreuen, wird ihm das ein Leichtes sein". (Ebd., S.25 (S.41f)) Wir wissen heute — wenn wir zum Beispiel an die zahlreichen Formen zur bakteriellen Verseuchung oder auch die Möglichkeiten zur Genmanipulation denken —, dass der Mensch inzwischen noch viel weitergehende Möglichkeiten entwickelt hat, als Montessori sie damals erahnen konnte. Aber an der Grundstruktur der Lebenssituation des Menschen hat sich dadurch nichts geändert.
Die Bedrohungen unserer Zeit sind vielmehr heute noch vielfältiger, aber der Menschheit auch bewusster geworden. So hat sich seit den 70er Jahren und den Berichten des "Club of Rome" in der Öffentlichkeit das Bewusstsein geschärft, dass wir in unserer wissenschaftlich-technischen Entwicklung nicht einfach weiter voranschreiten können, ohne dabei Rücksicht zu nehmen auf die Bewahrung der natürlichen Ressourcen, von denen wir leben. Die Menschheit ist dabei — so ist uns heute zunehmend deutlich geworden —, die Lebensgrundlagen ihrer eigenen Existenz durch rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen des Planeten Erde und Verseuchung der Umwelt durch ungehemmte technische Entwicklung zu zerstören.
Auch dieser Aspekt der Krisensituation unserer Zeit war Montessori wohlbekannt. Sie gehörte zu dem kleinen Kreis von Fachleuten, denen schon lange vor der ökologischen Wende des öffentlichen Bewusstseins seit Beginn der 70er Jahre der Begriff der Ökologie und die ökologische Denkweise vertraut waren. Nach Montessori muss der Mensch lernen, die bestehenden natürlichen Gleichgewichte nicht zu zerstören. "Heute weiß zum Beispiel jeder" — meint sie im Jahr 1937 bei einem Vortrag in Kopenhagen (der Entwicklung des Bewusstseins sicher weit vorausgreifend!) —, "daß das Aussterben einer Tierart an einem bestimmten Ort die Harmonie stört, denn, ich wiederhole, das Leben des einen steht in Beziehung zum Leben des anderen". (Ebd., S.108 (S.87f))
Montessori fordert den Menschen dazu auf, sein Verhältnis zur Natur neu zu gestalten. Allerdings denkt sie dabei nicht einfach an ein Aussteigen aus der neuzeitlichen, von Wissenschaft und Fortschritt gekennzeichneten Entwicklung. Es kann kein einfaches "Zurück zur Natur" geben. Der Mensch hat nämlich mit Hilfe von Wissenschaft und Technik sehr viel humanere Lebensmöglichkeiten geschaffen als es sie früher gab, und das für eine große Zahl von Menschen. Es muss darum gehen, diese humanen Potenzen der Menschheitsentwicklung weiterzuentwickeln und zu fördern und sie allen zugänglich zu machen. "Die Zeit ist vorbei", meint Montessori, "da irgendwelche Rassen oder Nationen zivilisiert sein können und andere dabei in Knechtschaft und Unwissenheit belassen". (Montessori, M.: "Kosmische Erziehung", Kleine Schriften 1, Freiburg 1988, S.108)
Die Menschheit kann nicht mehr ohne die von ihr entwickelte "Super-Natur" leben. Ihr weitere Ausbau im Sinne eines humaneren Lebens für alle ist vielmehr für Montessori eine zwingende Notwendigkeit. Allerdings muss diese Entwicklung vollzogen werden unter Bewahrung der Schöpfung und rückbezogen werden auf Vorgegebenheiten der Natur. "Die weise Natur" — so drückt Montessori es aus — "muß die Grundlage bilden, auf der eine noch vollkommenere Supra-Natur erbaut werden kann. Es ist sicher, daß der Fortschritt über die Natur hinausgehen und andere Formen annehmen muß; aber er kann nicht erfolgen wenn man die Natur mit Füßen tritt". (Montessori, M.: Über die Bildung des Menschen, Freiburg 1966, S.93 (=Montessori, M.: Dem Leben helfen, Kleine Schriften 3, Freiburg 1992, S.151))
Montessori weiß sehr wohl, dass es in der Menschheitsentwicklung nicht nur Positives gibt, sondern trotz deren Großartigkeit, die sie immer wieder betont, auch gewaltige Fehler unterlaufen sind. Dazu gehört etwa die ungerechte Verteilung der Reichtümer und der politischen Macht auf dieser Erde. Ökonomische und politische Reformen, die sich an den Prinzipien der Gerechtigkeit und Liebe orientieren, sind deshalb auch für Montessori unausweichlich. Aber für sie genügen sie nicht. "Wir müssen die Menschen auf die neue Welt vorbereiten, die sich spontan rings um uns aufbaut wie ein Evolutionsphänomen; wir müssen sie des neuen Lebens bewußt machen, das anhebt, damit sie für ein neues Dasein arbeiten können". (Montessori, M.: Frieden und Erziehung, Freiburg 1973, S.25 (=Montessori, M.: Die Macht der Schwachen, Kleine Schriften 2, Freiburg 1989, S.42).) Dies kann nach Montessori nur mit Hilfe einer neuen Erziehung geschehen. Man darf die menschlichen Kräfte ihrer Ansicht nach nicht mehr primär auf "das Vorantreiben des materiellen Fortschritts" richten, sondern "alle Anstrengungen (müssen) auf die Bildung des inneren Menschen ausgerichtet sein". (Ebd., S.55) Montessori hat eine solche umfassende Neuorientierung einer auf die Signaturen der Zeit bezogenen Erziehung in ihrer Pädagogik entworfen.
In ihren Überlegungen zur „Kosmischen Erziehung“ in ihrem Spätwerk hat Montessori ihre aus ihrer Analyse der Menschheitssituation gewonnenen Erkenntnisse pädagogisch umzusetzen gesucht. Montessori fordert die Erstellung eines universalen Lehrplans, "der den Verstand und das Gewissen aller Menschen in einer Harmonie vereinen kann" (Montessori, M.: "Kosmische Erziehung", Kleine Schriften 1, Freiburg 1988, S.26f). Als fundamentales Bildungsprinzip für diesen Lehrplan bezeichnet Montessori "die Wechselbeziehung aller Dinge und ihre Zentrierung in dem kosmischen Plan". (Ebd., S.100.) Dieses Prinzip bedeutet, dass der Lehrplan so gestaltet werden soll, dass er die jungen Menschen darin einübt, Zusammenhänge zu erfassen, vernetztes und systemisches Denken zu lernen. Alle Inhalte des Lehrplans sollen nach Auffassung Montessoris zudem in eine Sinnperspektive einrücken, die sie in der Evolution von Natur und Menschheit als "kosmischen Plan" zu finden glaubt.
"Kosmische Erziehung" kann zur zentrierenden Achse der übrigen Schularbeit werden. Anhand der Geschichte der Menschheit kann das Kind z. B. eine Vorstellung davon gewinnen, dass "Sprache, Religion … und Kunst" "gemeinsame Merkmale aller Menschen" darstellen und Erfindung der Schrift sowie mathematische Leistungen für den Aufbau von Kulturen fundamentale Bedeutung haben. (Montessori, M.: Von der Kindheit zur Jugend, Freiburg 1966, S.47 (=Montessori, M.: "Kosmische Erziehung", Freiburg 1988, S.122)) In den damit eröffneten umfassenden Sinnhorizont können dann die von Montessori entwickelten Programme für solche Fachbereiche — insbesondere für Mathematik und Sprache — einrücken. Zugleich wird dem Kind eine interkulturelle Perspektive eröffnet und das Bewusstsein für die grundlegenden Gemeinsamkeiten aller Menschen geweckt. Durch eine interkulturelle Akzentuierung der Inhalte in Fachbereichen wie Sprache und Mathematik — etwa die Einbeziehung von Schriftzeichen und Rechenformen fremder Kulturen — kann dies noch verstärkt werden. Entsprechendes gilt auch für Religion und Kunst.
"Kosmische Erziehung" soll sich nicht auf kognitive Zielsetzungen beschränken. Ihr Ziel ist wesentlich auch die Kultivierung von Gefühlen und die Förderung einer neuen Moral. Gegenüber Natur und Menschheit sollen Gefühle der "Bewunderung und Dankbarkeit", des "Staunens", der "Liebe" und der "Begeisterung" geweckt werden. Es kommt an auf die Pflege "der Gefühle für die Gerechtigkeit und persönliche Würde". Wichtig ist Montessori die Aufgabe, "jenes menschliche Verstehen und jene Solidarität zu entwickeln, die heute so sehr fehlen". Dazu bedarf es auch der Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit aller Menschen und ihre gemeinsame Aufgabe. "Kosmische Erziehung" "soll all das schätzen (lehren), was Frucht menschlicher Zusammenarbeit ist, und — die Bereitschaft (erbringen), Vorurteile im Interesse der gemeinschaftlichen Arbeit für den kosmischen Plan abzuwerfen —". (Montessori, M.: "Kosmische Erziehung", Kleine Schriften 1, Freiburg 1988, S.93f.)
Montessori hat vor allem in ihrer Zeit in Indien (1939-1949) versucht, diese Ideen in konkrete pädagogische Praxis umzusetzen. Spätere Montessori-Pädagogen haben diese Aufgabe fortgeführt. Heute gibt es vielfältige Materialien im Rahmen dieses pädagogischen Konzeptes.